Berlin, 22. Mai 2025 – Die wirtschaftliche Lage in Deutschland bleibt angespannt. Für das Jahr 2025 rechnet der Sachverständigenrat der Bundesregierung erneut nicht mit Wachstum – es wäre das dritte Krisenjahr in Folge. In einem Interview mit BILD äußerte sich Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm (53) zu den Folgen für Arbeitnehmer, Rentner und den Arbeitsmarkt.
Wirtschaft erhält Schulnote „Vier“
Auf die Frage nach dem aktuellen Zustand der deutschen Wirtschaft vergibt Grimm die Schulnote 4. Ihrer Einschätzung nach habe sich Deutschland seit Jahren nicht den strukturellen Herausforderungen gestellt. Statt langfristiger Reformen habe man sowohl in der Merkel-Ära als auch während der Corona-Pandemie auf kurzfristige Kreditprogramme gesetzt, um Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Diese Spielräume seien nun weitgehend ausgeschöpft.
Hoffnung auf politischen Kurswechsel unter Kanzler Merz
Zwar erkennt Grimm erste Ansätze eines Kurswechsels unter Bundeskanzler Friedrich Merz, etwa in der Außen- und Energiepolitik, doch bleibt abzuwarten, ob die Regierung tatsächlich die notwendigen Reformen umsetzen wird. „Wenn das gelingt, kann das Investitionen auslösen und die Stimmung in der Wirtschaft verbessern“, so Grimm.
Drohende Reallohnverluste und steigende Lohnnebenkosten
Für Arbeitnehmer zeichnet Grimm ein düsteres Bild. Aufgrund steigender Sozialabgaben und stagnierender Produktivität sei mit einem Rückgang der Nettolöhne zu rechnen – sogenannter Schrumpf-Lohn. Besonders kritisch sieht sie die Verlagerung von Beschäftigung aus der Industrie hin zu schlecht entlohnten Sektoren wie Pflege und öffentlichem Dienst.
Ein Anstieg des Mindestlohns – wie von manchen politischen Akteuren gefordert – sei aus ihrer Sicht in dieser Situation kontraproduktiv. „Wenn wir die Löhne weiter anheben, ohne dass die Produktivität mitwächst, gefährden wir unsere Wettbewerbsfähigkeit“, warnte die Ökonomin.
Steuererhöhungen und Einschnitte bei der Rente möglich
Angesichts steigender Schuldenlast hält Grimm Steuererhöhungen in den kommenden Jahren für möglich. Es müsse ein Umdenken stattfinden: „Irgendwann lässt sich die Realität nicht mehr durch neue Schulden verdrängen.“
Auch für Rentner deutet Grimm mögliche Einschnitte an. Die derzeitige Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau könne auf Dauer kaum gehalten werden. Eine Anpassung des Rentenalters – beispielsweise auf 68 Jahre bis 2033 – sei aus ihrer Sicht notwendig. Zudem plädiert sie dafür, Rentenanpassungen künftig eher an die Preis- als an die Lohnentwicklung zu koppeln, um das System zu stabilisieren.
Arbeitsmarkt: Weniger Industrie, mehr Pflege – aber nicht ohne Reformen
Die Prognosen für den Arbeitsmarkt sind ebenfalls herausfordernd. Zwar erwartet Grimm keinen massiven Anstieg der Arbeitslosenzahlen durch Entlassungen, jedoch würden viele Stellen bei natürlicher Fluktuation nicht nachbesetzt. Das trifft vor allem die Industrie. Gleichzeitig steige der Personalbedarf im öffentlichen Dienst und im Gesundheitswesen – ein Trend, den Grimm kritisch sieht.
Um diesem entgegenzuwirken, fordert sie mehr Automatisierung und Digitalisierung in diesen Bereichen, um den Arbeitskräftebedarf effizient zu senken.
Prof. Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Nürnberg. Seit 2020 gehört sie dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – auch bekannt als „Wirtschaftsweise“ – an. Ihr Schwerpunkt liegt unter anderem auf Energie- und Strukturpolitik.